Daniel Drepper

Los, lauf für Deutschland!

Zwei junge Triathleten jagen im Essener Sportinternat den Traum von Olympia. Sie sind die größten Hoffnungen ihres Verbandes. Trotzdem wollen sie sich nicht von einem Sport abhängig machen, bei dem ein einziges Rennen über ihre Zukunft entscheidet.

[Den Text habe ich für die heutige Wochenend-Beilage der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung geschrieben. Lesedauer: knapp zehn Minuten. Hier gibt es einen kurzen Hintergrund zu Eliteschulen des Sports.]

Junioren-Weltmeisterschaft im Triathlon, Peking, September 2011. Renning Elischer ist mit 16 Jahren noch zu jung für das Rennen – die Deutsche Triathlon Union hat ihn trotzdem nominiert. Er schwimmt und fährt vorne mit, läuft gegen die ältere Konkurrenz bis auf Rang elf. Im Ziel kämpft er mit den Tränen – aus Enttäuschung. Nur Platz elf. Es ist der Druck, den er sich selber macht.

Was Mutter, Trainer und Athlet später erzählen, ist typisch für Renning: Der Anspruch an sich selbst kennt keine Grenzen. Renning und sein Zwillingsbruder Fynn-Rasmus sind heute 17 Jahre alt und zwei der größten Triathlon-Talente Deutschlands. Die Zwillinge trainieren in Essen, in der Eliteschule des Sports an der Rosastraße. In Deutschland gibt es 39 solcher Schulen, auch in Wattenscheid und Willingen wohnen junge Sportler in Internaten. Insgesamt fördert der deutsche Sport so gut 11000 Talente. Sie sollen „Weltmeister werden und dabei den Schulabschluss schaffen“. Ist der Schulabschluss nur ein Nebenprodukt? Gefährden Jugendliche ihre Zukunft, wenn sie alles auf den Sport setzen?

„Im Triathlon der Beste der Welt werden“
Renning und Fynn-Rasmus rennen seit ihrem sechsten Lebensjahr; zu Beginn, um Problemen in der Schule Luft zu machen. Jahrelang jagen sie im westfälischen Ahlen die Rekorde ihrer zwei großen Brüder, später setzen sie selber welche. Mit 14 Jahren läuft Renning die fünf Kilometer in 16:24 – Westfalenrekord. Trotzdem entscheiden sich die Brüder für Triathlon, ziehen 2009 ins Internat nach Essen. „Im Triathlon ist die Chance größer, der Beste der Welt zu werden“, sagt Renning.

Es ist Mitte November 2011, kurz nach Rennings großem Erfolg in Peking. Die Vorbereitung auf die neue Saison ist erst ein paar Wochen alt. Heute sollen sich die Zwillinge entspannen. Entlastungswoche nennt sich das. Die achte Schulstunde ist grade zu Ende, Schwimmen steht auf dem Plan, zum Essen bleibt keine Zeit. Fynn-Rasmus prüft über den Laptop gebeugt noch schnell den Umfang der Einheit: 3600 Meter.

Die Zimmer ähneln einer Jugendherberge. Zwei Betten pro Raum, ein Tisch, ein Schrank. Dazu ein Aufenthaltsraum mit Sofas und Fernseher. Das ist die Welt der Elischers. Abends ins Kino oder in die Stadt geht es nur in absoluten Ausnahmen, die Freunde sind fast alle selbst Triathleten. „Das ist natürlich schon langweilig hier und wir sind auch traurig, wenn wir am Sonntagabend von Ahlen zurück ins Internat fahren“, sagt Renning. „Die Entscheidung war schwierig, aber wir waren eh meist nur mit Sportlern verabredet. Bei dem ganzen Training klappt es anders einfach nicht. Man braucht ja auch Zeit füreinander.“

Auf eigenen Wunsch ins Sportinternat
Die beiden haben selbst gedrängt, aufs Internat zu dürfen. Die Eltern waren lange skeptisch, wollten die Jüngsten ihrer fünf Kinder nicht verlieren. Doch der Aufwand war aus Sicht der Elischers ohne die räumliche Nähe von Schule, Schlafen und Training, ohne professionelle Betreuung kaum zu machen. Gut 60 Stunden hat eine Arbeitswoche für die Zwillinge: 35 Stunden Aufwand für das G8-Gymnasium, dazu 25 Stunden für Schwimmen, Radfahren und Laufen. Knapp zwei Mal am Tag trainieren die Jungs im Schnitt, Mittwochmorgens geht es um 5.45 Uhr ins kühle Wasser der Schwimmhalle am Internat.

In den ersten Monaten dieser Saison waren die Brüder gut acht Wochen in Trainingslagern: In Kienbaum, Österreich und Saarbrücken, auf Fuerteventura und Mallorca. Das Sportinternat garantiert, dass Fynn-Rasmus und Renning freigestellt werden. Zumindest so lange, wie die beiden in der zehnten Klasse des Helmholtz-Gymnasiums mitkommen. Fynn-Rasmus hatte im vergangenen Schuljahr einen Schnitt von 1,6, Renning von 1,7. Früher lag der Schnitt bei 1,4. Man merkt, dass die beiden den verpassten Stoff in Trainingslagern nacharbeiten müssen.

Deutlich weniger Wert auf den Schulabschluss werde in Eliteschulen im Osten Deutschlands gelegt, berichten Sportler wie Lehrer. Der Sportsoziologe Eike Emrich hat herausgefunden, dass in Ost-Schulen besonders viele Schüler aufgenommen, aber im Schnitt relativ wenige zum Erfolg geführt werden. Der Drop-Out ist größer. Im Westen wird dagegen vergleichsweise sorgfältig selektiert, bevor jemand aufgenommen wird; dafür wird den Jugendlichen dann umso ausdauernder beigestanden.

Die Eliteschule kostet 800.000 Euro Steuergeld pro Jahr

Im Essener Sportinternat schlafen 53 Sportler. Seit 1987 gibt es in Essen ein Teilinternat, seit 2007 ist es Eliteschule des Sports. 450 Euro zahlen die Kinder für einen Platz pro Monat. Das Essener Internat finanziert sich dazu vor allem aus Steuern. Die Stadt Essen und das Land NRW haben 3,75 der 4,5 Millionen Euro für den Bau des Hauses bezahlt, den Rest finanzierten Spenden. Seit Eröffnung vor gut vier Jahren fließen jedes Jahr knapp 800000 Euro in die Träume der jungen Sportler. Und in die Medaillenhoffnung ihrer Verbände. Finanziert von der öffentlichen Sportstiftung NRW, dem Land, dem Bund und der Stadt.

Nachwuchsleistungssport, finanziert aus Steuern: Für den Frankfurter Sportpädagogen Robert Prohl sind Eliteschulen des Sports in der gegenwärtigen Form ein Relikt aus der DDR. Er vergleicht die Schulen mit den damals verbreiteten Kinder- und Jugendsportschulen, die Schüler für den Leistungssport drillen und Medaillen-Nachschub sichern sollten. Grundsätzlich ist gegen Schulen für begabte Kinder nicht viel zu sagen – solange die Kinder im Mittelpunkt stehen. Sie haben ein Talent für und Spaß am Sport, also sollen sie das ausleben dürfen.

Doch die Eliteschüler werden nach den Erfolgsaussichten für die Verbände ausgesucht: Die Förderung der Landesfachverbände hängt davon ab, wie erfolgreich die Nachwuchssportler sind. Dafür hat sich der Deutsche Olympische Sportbund sogar ein eigenes Punktesystem ausgedacht. Ein Verband, der auf dieser Skala weniger als 41 von 70 Punkten holt, wird nur noch „punktuell“ gefördert. Geld für spezielle Projekte ist abhängig von der Aussicht auf Olympia-Medaillen. „Solch ein Schulmodell ist mit Prinzipien einer demokratischen Gesellschaft und dem entsprechenden Erziehungssystem nur noch bedingt vereinbar“, sagt Sportpädagogik-Professor Prohl. Die Reflektion der eigenen Biographie komme zu kurz. Der Staat verlangt für die Aufnahme in eine solche Begabtenschule des Sports als Gegenleistung den sportlichen Erfolg. Das instrumentalisiert den Athleten.

Keine Sozialfälle? Für einige war Essen zu hart

Horst Melzer leitet das Essener Sportinternat. Melzer betont, dass es nicht um Leistung um jeden Preis gehe, schließlich würde keiner der Triathleten, Schwimmer, Kanufahrer später reich mit seinem Sport. Das Internat sorge für eine gleichrangige duale Ausbildung, deshalb gebe es unter den Essener Sportlern keine Sozialfälle. Im Stockwerk drüber, im Aufenthaltsraum der Sportler, hängt eine Wand mit Fotos ehemaliger Mitschüler. Fragt man, warum die Jungs und Mädchen gegangen sind, wie es mit ihnen weiterging, hören sich manche der Geschichten anders an. Für einige war es in Essen zu hart.

Hart ist es auch für Renning und Fynn-Rasmus. Als Triathlon-Profis bräuchten die Elischers entweder ein großes Familienvermögen oder sie gehen in die Sportfördergruppe der Bundeswehr. Sie müssten sich voll auf den Sport konzentrieren. Ein reguläres Studium und gleichzeitig Profi? „Das hat in den vergangenen Jahren keiner geschafft“, sagt Wolfgang Thiel, Sportdirektor der Deutschen Triathlon Union. Sein Verband teste die jungen Talente nach der Schule zwei Jahre lang, ob sie es in der Spitze packen können. Falls nicht, empfehle der Verband den Junioren eine Ausbildung oder ein Studium. „Wir lassen die Leute nicht mit 30 Jahren auf der Straße stehen. Wenn die Reise nicht in die Spitze geht, schieben wir einen Riegel vor“, sagt Thiel.

Wie schnell die Reise vorbei sein kann, haben Renning und Fynn-Rasmus in diesem Frühjahr erlebt. Am 17. März schwimmen und rennen die beiden in Saarbrücken einen Leistungstest: Um zur Europameisterschaft nach Israel zu kommen, müssen die beiden unter den ersten drei das Ziel erreichen. Fynn wird Neunter, Renning nur 14. Danach fallen die beiden in ein Loch. Sie merken, wie schnell es im Triathlon ganz nach unten gehen kann. Ohne die EM ist auch ihre Förderung in Gefahr.

„Der Spaß am Sport muss bleiben“
Fynn-Rasmus ist ein ein ruhiger Typ, nachdenklich. Renning spielt oft den Klassenclown, ist nach außen lauter, lacht und redet viel. Jetzt kommen beide ins Grübeln. Sie wollen ihr Leben nachhaltiger angehen. Fynn würde gern Medizin studieren, auch Renning stellt seinen Lebensplan nochmal in Frage. Eigentlich wollte er später mit aller Macht am Bundeszentrum in Saarbrücken trainieren, Profi werden, „zur Not gehe ich mit dem Zelt da hin“. Jetzt, sagt Renning, müsse man schon überlegen, ob man das ganze etwas nachhaltiger gestalte. Ein Studium, eine Ausbildung – das man nicht gleich verloren ist, wenn eine Saison mal etwas schlechter läuft. „Der Spaß am Sport muss bleiben.“

Timo Stiller ist Lehrer an der Eliteschule in Leverkusen. Dort will er den Schülern die Möglichkeit geben, über ihr Handeln zu reflektieren. Er hat einen Lehrplan entworfen, in dem auch über Doping gesprochen wird, über Einflüsse des Sports auf die Gesellschaft, über Sport als Ersatzreligion. Stiller erlebt bei seinen Schülern immer wieder die Suche nach dem Sinn des Sporttreibens. „Sport ist zu Beginn einer Karriere ohne Zweck, man macht ihn zum Spaß“, sagt Stiller. „Durch den Leistungszwang kehrt sich das um.“ Stiller will den Jugendlichen ihren Sport zurückgeben. Bei seinen Schülern, sagt Stiller, kommt die Reflektion über Sport gut an. Stiller hat ein wissenschaftlich begleitetes Projekt gestartet, 15 seiner Schüler sind nun „philosophierende Spitzensportler“, so heißt der Kurs. Den Schülern gefällt es, sagt Stiller. Sportfunktionäre und Ministerien hätten dagegen kein Interesse an seinem Projekt.

Nach der verpassten Qualifikation für die EM in Israel Mitte März kommt Fynn gut durch die Saison, holt zweite und dritte Plätze bei Meisterschaften und nationalen Rennen. Renning rennt seiner Form hinterher. Mal Neunter, mal 13. – das ist unter seinem Anspruch. Alles läuft jetzt auf den 15. Juli hinaus, auf die Deutsche Juniorenmeisterschaft im sächsischen Grimma. Laufen die Zwillinge hier schlecht, verlieren sie wahrscheinlich ihre Förderung. Renning, der als Nationalmannschaftsathlet im C-Kader die für ihn höchstmögliche Förderung bekommt, könnte in den D-Kader fallen, auf eine ungleich geringere Landesförderung. Die Eltern müssten mehr für das Internat zuschießen, Trainingslager müssten sie wieder selbst bezahlen. Entsprechend nervös stehen die beiden am Start.

Alles oder nichts
Nach 750 Meter Schwimmen kommt Fynn-Rasmus als Dritter aus dem Wasser, Renning braucht als Elfter nur 20 Sekunden länger, verpasst aber die erste Radgruppe. In der zweiten Gruppe übernimmt er die Führungsarbeit, doch der Abstand wird über die hügeligen 20 Kilometer sogar noch etwas größer. Mit 30 Sekunden Rückstand geht er auf die letzten fünf Kilometer. Während Fynn in einer Dreier-Spitze läuft und das Feld teilweise anführt, läuft Renning Sekunde um Sekunde näher heran. 500 Meter vor dem Ziel schließt er auf, überholt die Gruppe, biegt als Erster um die letzte Kurve und wird Deutscher Meister. Die fünf Kilometer läuft Renning diesmal in 15:01. Fynn-Rasmus kommt auf Platz drei ins Ziel.

Alles nochmal gut gegangen. Renning darf jetzt bei der Junioren-Weltmeisterschaft im neuseeländischen Auckland starten, vielleicht wird auch Fynn-Rasmus nominiert. Das Rennen ist erst Ende Oktober, die Saison wäre viel länger als geplant – mit mehr Training, weniger Schule und noch weniger Freizeit. Ob sie diesmal bei der WM starten wollen, wissen Renning und Fynn-Rasmus noch nicht.

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[Disclosure] Ich bin mit der Familie Elischer seit Jahren befreundet, habe mit den großen Brüdern von Renning und Fynn-Rasmus selbst einige Jahre trainert.
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[Hintergrund zu Eliteschulen des Sports]

Dazu habe ich für das Wochenende der WAZ ein kleines Beistück produziert: Haben Eliteschüler des Sports überhaupt mehr Erfolg?

Knapp 30 Prozent aller Olympiastarter in Peking waren ehemalige Eliteschüler des Sports, bei den Winterspielen in Vancouver waren es vor zwei Jahren gar 53 Prozent. Ob Eliteschulen tatsächlich zu mehr Medaillen verhelfen, ist aber fraglich.

Eine Forschungsgruppe um Eike Emrich schaute sich Olympiateilnehmer genauer an. Emrich ist in Saarbrücken Professor für Sportsoziologie und –ökonomie. Er fragte sich: Gibt es Unterschiede zwischen Eliteschülern des Sports und solchen, die keine Eliteschule besucht haben? Zumindest in Sommersportarten wie sie in Essen angeboten werden – Schwimmen, Triathlon oder Kanu – gibt es keine Unterschiede. Lediglich im Wintersport waren Eliteschüler erfolgreicher, weil sie dort Bobbahnen oder Skisprungschanzen besser nutzen können. Emrich und Co fanden außerdem heraus, dass Eliteschüler später im Schnitt schlechtere berufliche Aussichten haben. Während Spitzensportler außerhalb solcher Einrichtungen häufig studieren und zum Teil Karriere machen, gehen Eliteschüler meist zu den Sportfördergruppen der Bundeswehr oder Polizei. Die Forscher fassen zusammen: Eliteschüler investieren mehr, riskieren soziale Beziehungen und ihre Karriere, haben aber trotzdem – im Schnitt – keinen größeren sportlichen Erfolg.

Und es kommt noch etwas hinzu: Je früher sich ein Athlet vom deutschen Sportsystem fördern lässt – in Eliteschulen ist das allermeist Bedingung zur Aufnahme – desto unwahrscheinlicher ist es, dass er später auch international Erfolge feiert. Dieses Ergebnis hat eine Forschungsarbeit von Eike Emrich und dem Kaiserslauterner Professor Arne Güllich. Das Papier ist derzeit noch in der Begutachtung. In einer siebenjährigen Längsschnittstudie haben Emrich und Güllich herausgefunden, dass durchschnittlich 44 Prozent der Kaderathleten pro Jahr ausgetauscht werden. Nur wenige Athleten wurden über die gesamte Karriere begleitet. Je länger sich Athleten frei entfalten können, desto mehr Erfolg haben sie, schreiben Emrich und Güllich. Schon 2006 hatten die beiden Forscher empirisch belegt, dass sich internationale Top-Stars im Jugendalter oft langsamer entwickeln, als ihre Altersgenossen und sich länger in anderen Sportarten ausprobieren.

Der Deutsche Olympische Sportbund vergibt den Titel „Eliteschule des Sports“ an die einzelnen Schulen. Auf eine Anfrage in dieser Woche gab der DOSB keine Antworten, das Thema benötige eine ausführliche Auseinandersetzung, dazu sei die Zeit vor Olympia zu knapp.

  1. 21. September 2012 -

    Hallo Daniel,

    ein schöner Artikel – nur dass es in den Zimmern wie in der Jugendherberge aussieht, dem möchte ich doch deutlich widersprechen.

    Gruß Grit

    • 23. September 2012 -

      @Grit Weinert

      Vergleiche sind immer gefährlich … Etwas persönlicher eingerichtet sind sie dann doch, das stimmt. Viele Grüße!